Ein denkwürdiger Ausflug
Der Königsbesuch auf der Neuenburg von 1806
So verlassen wie die Neuenburg in den Tagen des Lockdowns 2020 und 2021 aufgrund der ihr fehlenden Besucher wirkte, erinnert an jene Zeit zwischen dem Verlust ihrer fürstlichen Nutzung und ihrer „Wiederbelebung“ durch eine interessierte, insbesondere bürgerliche Öffentlichkeit im Zuge des sich entwickelnden neuzeitlichen Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert.
Nach dem mehrtägigen Aufenthalt des sächsischen Kurfürsten Friedrich Augusts II. 1751 und der endgültigen Aufgabe der altehrwürdigen Neuenburg als Residenz im Jahr 1770 sollte es nun bis 1806 dauern, ehe sie wieder ins Licht fürstlichen Interesses zurückkehrte. Am 30. September dieses Jahres stattete der preußische Monarch Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) mit seiner Gattin Luise aus dem Haus Mecklenburg-Strelitz der Neuenburg einen Besuch ab. Hat dieses Ereignis auch nur wenig Zeit beansprucht, wirkte es doch sehr begünstigend und förderlich auf die Entwicklung des Schlosses hin zu einem beliebten Ausflugsziel. Eine Entwicklung, die eng mit der preußischen Königin bzw. ihrer Bedeutung für die Mit- und Nachwelt verwoben scheint.
Am 10. März 2021 rundete sich ihr Geburtstag zum 245. Mal. Dies bot den Anlass, um genauer auf das Ereignis von 1806 und die touristische Nachwirkung für die Neuenburg sowie die damit einhergehenden Anfänge ihrer musealen Nutzung zu schauen.
Der Hintergrund
Das Ende des 18. und der Beginn des 19. Jahrhunderts stehen im Zeichen der Französischen Revolution sowie dem daraus resultierenden Aufstieg Napoleon Bonapartes (1769–1821) zum Kaiser der Franzosen. Dessen Reform- und Herrschaftsansprüche, die sich letztlich weit über die Grenzen Frankreichs hinaus auf weite Teile Europas richteten, mündeten in kriegerischen Auseinandersetzungen, die den europäischen Kontinent prägten.
Eines der bedeutsamsten – und sicher auch eines der populärsten – kriegerischen Ereignisse trug sich am 14. Oktober 1806 bei Jena und Auerstedt zu. Ausgelöst durch einen politischen Konflikt zwischen Frankreich und Preußen, endete die Doppelschlacht zwischen beiden Großmächten mit einer verheerenden Niederlage für die preußischen Truppen.
Da sich bereits im Laufe des Jahres 1806 die Anzeichen auf einen bevorstehenden Krieg häuften und man befürchtete, dass Sachsen zu dessen Austragungsort werden würde, stellte Kurfürst Friedrich August III. (1750–1827) Anfang Oktober seine Truppen schließlich unter den Oberbefehl Preußens.
Wenige Tage zuvor befand sich das preußische Hauptquartier (vom 20. September bis zum 4. Oktober 1806) bereits in Naumburg, das ebenso wie die Neuenburg zum kursächsischen Gebiet gehörte.
Am 23. September marschierte auch das preußische Königspaar in den Ort ein und bezog das vormalige Residenzgebäude am Naumburger Markt.
Der Ausflug
Trotz der militärischen Beweggründe für die Reise an Saale und Unstrut, unternahm die Königin mehrere Ausflüge. Mit Vorliebe besuchte sie eine über der Saale liegende landschaftliche Erhebung namens „Henne“, mit Fährstation und Gasthaus in der Nähe. Schon zweimal zuvor (1793 und 1799) war sie hier.
Am 30. September schließlich, reiste Luise zusammen mit ihrem Gatten Friedrich Wilhelm III. zur nahe gelegenen Neuenburg. Begleitet wurden sie von Karl zu Mecklenburg-Strelitz, dem Halbbruder der Königin, und von Generalfeldmarschall Wichard von Möllendorff. Während ihr Gatte, ihr Halbbruder sowie der Generalfeldmarschall unterschiedliche Wege zu Pferd auf die Neuenburg nahmen, fuhr Luise per Kutsche bis zur heute noch existierenden Burgmühle in Freyburg, ab wo sie zu Fuß zum Schloss hinauf geführt wurde.
Am Burgtor angekommen, ging es vorerst zum nahen Haineberg, um hier den Blick über das Unstruttal schweifen zu lassen. Wieder zurück, wurde die hohe Gesellschaft durch den Rentmeister Johann Gottfried Gleißberg mit dem Schloss und seinen Räumlichkeiten bekannt gemacht. Besondere Bedeutung fand dabei – vor allem im Nachhinein – die Erkerstube an der Westspitze des Galerieflügels, wo das Herrscherpaar vor seiner Rückreise nach Naumburg noch einmal den Ausblick genoss. Dieser hinterließ offensichtlich einen starken Eindruck, sodass der Preußenkönig bereits beim Abgang bemerkt hätte: „Die hiesige Gegend ist merkwürdig und schön!“
Die Königin
Leider hat weder dieses Kompliment noch der Hergang des nachmittäglichen Ausfluges an sich Einzug in authentische archivalische Quellen gehalten – und falls doch, so liegen sie noch im Verborgenen. Angesichts der dramatischen Situation, in der sich das hoheitliche Paar und deren Begleiter befanden, konnte der kurzweilige Besuch von Schloss Neuenburg sicher nur eine sehr nachgeordnete Rolle einnehmen. Überschattet vom drohenden Krieg, strapazierenden Vorbereitungen, permanentem Krach und Trubel fand er keine Erwähnung in den persönlichen Schriftzeugnissen der Beteiligten.
Die Königin selbst war vornehmlich repräsentativen Aufgaben zugewandt, was sich auch in militärischer Hinsicht zeigte. So fungierte sie seit März 1806 als Oberhaupt des „Dragoner-Regiments Ansbach-Bayreuth“. Bei entsprechenden Begrüßungszeremonien – wie z. B. vier Tage vor der Doppelschlacht – trug Luise eine Paradeuniform in den Regimentsfarben, was sie in dieser Rolle unübersehbar machte und sicher auch zur ihrer Popularität unter den Soldaten beitrug. Damit trat sie hinter ihrem als zögerlich beschriebenen Gemahl Friedrich Wilhelm hervor und demonstrierte ihre Befürwortung des Krieges gegen Frankreich. In entsprechender Absicht, ihrem Gatten moralische Stütze zu sein, hatte sie ihn nach Naumburg begleitet.
Dieses Selbstbewusstsein zeigte Luise auch in anderen Bereichen, wenngleich sie sich offiziell ins damalige Rollenbild einfügte. Beispielsweise befasste sie sich auch mit den politischen Ideen ihrer Zeit und suchte den Austausch mit preußischen Reformern.
Der Mythos
Solche zuweilen eher untypischen Verhaltensmuster für die Frau eines Monarchen um 1800, taten der bereits zu Lebzeiten begonnenen Verehrung Luises als bürgerlichen Tugenden entsprechende, volksnahe Schönheit keinerlei Abbruch, im Gegenteil: Werte wie Häuslichkeit, Sittlichkeit, Schlichtheit oder Herzlichkeit wurden auf sie projiziert.
Im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und Russland zusammen mit Preußen 1807 in Tilsit, sei Luise dem Erzfeind Napoleon sogar gegenüber getreten und hätte sich um Milde für ihr Land bemüht. Tatsächlich aber fiel das Urteil hart aus. Preußen wurde zur Mittelmacht degradiert, die preußische Monarchin hingegen avancierte zur Märtyrerin, begünstigt durch ihren frühen Tod 1810 mit nur 34 Jahren. Glorifiziert wurde sie als patriotische Landesmutter, die trotz Niederlage und qualvoller Flucht, Demütigung und Leid erduldend, nicht aufgibt, um der französischen Übermacht die Stirn zu bieten und sich letztlich für ihr Volk, für die Nation aufopfert. Zuvor schon Hoffnungsträgerin des Bürgertums, entwickelte sich Luise nun zu einer Leitfigur in den Freiheitskriegen und zur weiblichen Ikone der nationalen Bewegung.
Befeuert durch den Sieg über Napoleon und den Wiederaufstieg Preußens unter ihren Söhnen wurde der Kult um die als engelsgleich gedeutete Heldin der Nation vorangetrieben. Immer mehr hob man sie nun auch in ihrer Rolle als Mutter hervor und verklärte sie als „preußische Madonna“. Mit der auf französischem Boden durchgeführten Ernennung ihres Sohnes Wilhelm zum „Deutschen Kaiser“ schließlich, erreichte die Verehrung ihren Zenit. Und selbst über die Zeit des Kaiserreiches hinaus entfaltete der Mythos noch seine Wirkung.
Die Verarbeitung
Kunde vom Ausflug Luises und Friedrich Wilhelms III. zur Neuenburg erhalten wir heute vor allem durch einige Jahre danach entstandene publizistische Literatur über die Region, verfasst von Autoren aus der Region. Das darunter früheste bekannte Werk stammt aus dem Jahr 1832 und enthält eine eher kurze Beschreibung des Geschehens. Ganz anders eine 1853 von Johann Friedrich Wilhelm Stiebitz herausgegebene Abhandlung. Die darin mit viel Pathos und zahlreichen, z. T. symbolisch aufgeladenen Einzelheiten dekorierte Schilderung ist ein Indiz für die zunehmende Etablierung des „Luisenmythos“ im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft.
Aufgrund dieser, bereits zu Lebzeiten der Königin einsetzenden Verklärung ihrer Person – und fehlender authentischer Schriftzeugnisse – fällt es schwer, den Wahrheitsgehalt dieser zumal etliche Jahre später geschaffenen Darstellung der herrschaftlichen Kurzreise zu beurteilen. Ist sie doch mehr literarische Verarbeitung als nüchterne Berichterstattung. Zur Verbreitung der Kenntnis über das Ereignis an sich hat solche Literatur aber immerhin beigetragen.
Ebenso lässt sich nur spekulieren, was denn eigentlich die exakten Motive für den Besuch des Freyburger Schlosses waren. Ging es hauptsächlich um kurzweilige Zerstreuung angesichts des nahenden Krieges oder waren gerade deshalb militärische Gründe vorrangig? Viele Fragen bleiben unbeantwortet.
Die Nachwirkung
Festzuhalten bleibt jedoch, dass es der voranschreitenden Mythisierung Luises zu verdanken ist, weshalb ihr Besuch nicht völlig ins Vergessen geriet und damit auch die – seit 1815 auf preußischem Territorium stehende – Neuenburg im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem „Erinnerungsort“ für die Monarchin heranwuchs. Schließlich förderte ihre einstige Gegenwart nicht nur den Umstand, dass dem Schloss wieder größeres öffentliches Interesse entgegengebracht wurde und vermehrt Ausflügler zu ihm „pilgerten“, sondern auch die Entwicklung erster Grundzüge seiner musealen Nutzung.
Luise zu Ehren wurde das Sitzmöbel, auf dem sie in der „Erkerstube“ gesessen hätte, wie eine Reliquie und später als unveräußerliches Eigentum in diesem Zimmer verwahrt. Rentmeister Gleißberg, aus dessen Besitz das Möbelstück kam, beschilderte den „Louisen-Sessel“ entsprechend zum Andenken der preußischen Königin. Mit Auflösung des Rentamtes 1868 wurde das „Erkerzimmer“ für Besucher frei zugänglich und dessen musealer Charakter weiter forciert, über die schrittweise Bereicherung des Raumes mit verschiedenen Möbeln und anderen Einrichtungsstücken, z. T. aus dem Nachlass Friedrich Wilhelms und Luises. 1880 galt dieser Raum schließlich als „Memorialmuseum“, deren Interieur tragischerweise gegen Ende des Zweiten Weltkrieges nahezu komplett verschwand – darunter auch der „Luisenstuhl“.
Die hier zu sehende Seite des Werkes zeigt die Beschriftung des „Luisenstuhls“ in der 1853 vom Verfasser korrigierten Version.
Trotz der Tatsache, dass der „Luisenkult“ für die steigende Popularität der Neuenburg im 19. Jahrhundert bedeutsam war, sollte sein Einfluss doch nur in einer Reihe mehrerer, sich teils gegenseitig bedingender Ursachen gesehen werden, die hier nur exemplarisch aufgeführt werden können. So ist das 19. Jahrhundert auch das Zeitalter der Romantik, womit die Idealisierung des Mittelalters einherging. Burgen – oder das, was von ihnen übrig war – verwandelten sich in Sehnsuchtsorte. Gleichsam stieg ihr kunsthistorischer, kultureller und damit identitätsstiftender Wert. Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts geleisteten, umfassenden Instandsetzungsarbeiten auf der Neuenburg können aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet werden. Dafür spricht auch einerseits die Befürchtung der damaligen Baubehörde, mit Umsetzung in Erwägung gezogener Teilabrissideen Widerstand in der Öffentlichkeit zu erregen sowie andererseits der schon in den 1840er Jahren lebhafte Besucherverkehr.
Und 1853 sollte noch einmal ein preußischer Herrscher die Neuenburg beehren: Friedrich Wilhelm IV., der älteste Sohn Luises. Sein Besuch, der freilich unter ganz anderen Bedingungen als 1806 stattfand, hoch repräsentativ war und sogar eine Übernachtung des Monarchen und vieler Gäste beinhaltete, tat sicher sein Weiteres für die Attraktivität der Neuenburg, genau wie die vorangegangenen und nachfolgenden Sanierungsarbeiten selbst, welche nicht nur den Erhalt des Bauwerkes sicherten, sondern ihm auch ein Stück seines alten Glanzes zurück gaben.
Der vorerst nur regional wahrgenommene Besuch am 30. September 1806 allerdings bildete gewissermaßen den Auftakt für die „Wiederentdeckung“ der Neuenburg – die seitdem neben der Hl. Elisabeth auch noch auf die „hochselige“ Luise verweisen kann.
Empfehlenswerte Literatur zum Thema:
Musall, Bettina: Reformstaat Preussen. Schöne Feindin, schimmernder Stern, in: Der Spiegel 3 (2007), in: (https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/52666769) + 01.02.2021.
Peukert, Jörg/Ebert, Kordula: „Das wolle der Reisende nicht ungesehen lassen“. Die Museen im Schloss Neuenburg, Wettin 2010.
Speth, Rudolf: Königin Luise von Preußen als Nationalheldin, in: Zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1., in: (www.zeitenblicke.de/2004/01/speth/Speth.pdf) + 01.02.2021.
Stiebitz, Johann Friedrich Wilhelm: Geschichtlicher Nachweis über die Roßbacher Schlachtsäule sowie über Schloß und Kirche zu Freyburg: nebst historischen Merkwürdigkeiten und Erzählungen von Freyburg und Umgegend; Als Erinnerung an das große, vom vierten Armee-Corps auf dem Roßbacher Schlachtfelde ausgeführte Herbst-Manoeuvre im Jahr 1853, Weißenfels 1853.
Thimann, Marlene: „Unser erster Gang gilt der alten Veste.“ Schloss Neuenburg wird zum Ausflugsziel, in: Schmuhl, Boje E. Hans/Breitenborn, Konrad (Hg.): Schloss Neuenburg, Wettin 2012, S. 403-422.
Tille, Katrin: „Die hiesige Gegend ist merkwürdig und schön!“ – Schloss Neuenburg und die Königsbesuche von 1806 und 1853, in: Schmuhl, Boje E. Hans/Breitenborn, Konrad (Hg.): Schloss Neuenburg, Dößel 2012, S. 361-402.